Wir schreiben das Jahr 1987. Osamu Tezuka, der Pionier der japanischen Manga-Comics, besucht Wien, um für sein neues Projekt „Ludwig B.“ über Ludwig van Beethoven zu recherchieren. Die österreichische Kulturgeschichte ist ihm nicht fremd. Schon 1970 beeinflusst ihn Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ bei seinem Manga „The Book of Human Insects“. Womöglich ist ihm in Wien „Das poetische Tagebuch“ der Kaiserin Elisabeth in die Hände gefallen.
Brausende Wasser, tosender Fall,
Einförmig’ doch so melodischer Schall,
Müde der Körper, lauscht noch das Ohr,
Rauschen die Tön’ so bekannt ihm doch vor,
Werfen schon glitzernde Perlen in’ Traum –
Süsses Gedenken, zerstäubender Schaum.
So schreibt Sisi darin 1885 über den 200 Meter in die Tiefe donnernden Gasteiner Wasserfall. Hätte er diese Zeilen gelesen, wäre Tezuka wohl nach Bad Gastein gekommen, um die gigantische Naturkulisse mit eigenen Augen zu sehen, welche die österreichische Kaiserin in ihren Gedichten beschreibt. Um zeichnen zu können, welche Gipfel die rastlose Monarchin erklommen hat.
Und folgende Szene hätte sich zugetragen:
Ein kleiner Mann aus Japan, Ende 50, in einem blauen Trenchcoat steht schnaufend über dem Reichebenwald. Er hebt das Baskenmützchen von der Stirn und wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß ab, der ihm unter die dicken Brillengläser tropft. Majestätisch thront über ihm der Gamskarkogel zwischen Gasteinertal und Großarltal. „Und hier ist also die österreichische Kaiserin hinaufgelaufen!“, schießt es ihm durch den Kopf.
Tatsächlich hat die Kaiserin die Angewohnheit, Gipfel im wahrsten Sinne des Wortes zu erstürmen. In voller, ihrem Stand entsprechender Montur, eingeschnürt in eine Korsage, gibt sie ein so rasendes Tempo vor, dass die Hofdamen nur hinterherkeuchen können. Je näher sie dem Gipfelkreuz kommt, desto mehr ihrer Kleidungsstücke fliegen aber in hohem Bogen von ihr, und ein Lakai muss Schal, Mantel, Pelz aufheben und ihr hinterhertragen.
Während ihrer wochenlangen Kuraufenthalte unternimmt sie tagtäglich stundenlange Bergtouren.
1891 wird sie auf der Rastötzen-Alm gemeinsam mit ihrem Bergführer Rupert Hacksteiner, ihrem Griechisch-Lehrer Constantinos Christomanos und ihrer Hofdame Gräfin Mikes vom Gewitter überrascht und muss die Nacht in der Lederhütte im Heu verbringen. Christomanos muss schließlich vor Zudringlichkeiten durch die Almerin beschützt werden.
Titania griff zum Stachelstab,
Ich muss heut, sprach sie,
wandern, Seen entlang, Thäler hinab,
Von einem Berg zum andern,
heißt es 1888 in ihrem Gedicht „Der längste Tag“. Mit „Titania“ bezeichnet sich Sisi selbst. Gleich der Elfenkönigin aus Shakespeares „Sommernachtstraum“. Tochter der Titanen, des Göttergeschlechts der Goldenen Ära.
Sisi gilt als die Schönste ihrer Zeit. Ihr knielanges, hellbraunes Haar wird von ihrer Leibfriseurin Fanny Angerer, die sie vom Burgtheater abgeworben hat, kunstvoll arrangiert. Mit Turnübungen hält sie sich zusätzlich fit und ihr Gewicht mit einer Diät aus Milch und Eiern stets unter 50 kg. Ausgestattet mit diesen Vorzügen spielt sie mit den Männern ein Spiel aus Verlockung und Zurückweisung. Hält ihre zahlreichen Verehrer stets auf Distanz.
Doch starke Ischias- und Rheumabeschwerden haben Sisi nach Bad Gastein gebracht, wo sie sich Linderung durch das radonhaltige Wasser und die gute Alpenluft erhofft. Sie steigt vornehmlich in der – von Fürstin Czetertinsky erbauten und am Fuße des Graukogels gelegenen – Villa Helenenburg ab und lässt sich das heilsame Thermalwasser in Holzbottichen mit dem Pferdefuhrwerk zustellen. Abseits vom Trubel auf der Kaiser-Wilhelm-Promenade, der ihr ein Gräuel ist.
Nur kranke Glieder dachte ich zu bringen,
wo mystisch deine heissen Wasser springen,
geheimnisvoll versagend und ertheilend,
hier jede Hoffnung raubend, dort heilend,
schreibt Sisi 1886 im Gedicht „Gastein“. Schon oft ist Sisi jede Hoffnung geraubt worden. Bereits ihre Mutter, Ludovika von Bayern, spricht anlässlich ihrer eigenen Hochzeit mit ihrem ungeliebten Cousin zweiten Grades Herzog Max in Bayern die prophetischen Worte: „Dieser Ehe und allem, was daraus hervorgeht, soll der Segen Gottes fehlen bis ans Ende.“
Ihre Tochter Elisabeth beginnt schon im Alter von 15 Jahren, Gedichte zu schreiben: schwärmerisch, leidenschaftlich, romantisch und unglücklich. Das Ziel ihrer jugendlichen Begierde, ein Graf im Dienste ihres Vaters, ist nicht standesgemäß, muss fort aus München und stirbt schon bald. Die heftige Trauer fasst sie in Verse.
Doch bereits im zarten Alter von 16 heiratet sie den österreichischen Kaiser Franz Joseph I.
Drei Jahre später stirbt ihre Tochter Sophie in ihren Armen. Von Depressionen geplagt verlässt sie Wien und kehrt nie wieder für längere Zeit zurück. Den Hof empfindet sie als Kerker. Sie will ihre Ketten sprengen, sich von den Fesseln befreien. In einem Brief fordert sie 1865 ihre Unabhängigkeit von ihrem Mann. „... Ferner wünsche ich, dass, was immer meine persönlichen Angelegenheiten betrifft ..., mir allein zu bestimmen vorbehalten bleibt.“
Rastlos, getrieben kann sie nirgends verweilen. Sie muss reisen, von ihrem ungarischen Schloss Gödöllö zu ihrem Achilleion auf Korfu, weiter nach England zur Parforcejagd. Als ihr Jagdpartner George „Bay“ Middleton sich 1882 ihrem heiß-kalten Spiel durch Heirat entzieht, verblasst auch ihre Liebe am Reitsport und sie beginnt zu marschieren. Im Eilschritt die Berge hinan. Doch Todessehnsucht bestimmt ihr Leben.
Und wandelt euer Fuss am stillen See,
O sucht mich nimmermehr hier in der Tiefe,
Nein, blicket auf in jene blaue Höh’,
Ist’s nicht, als ob mein Geist von dort
mich riefe?,
beschreibt Sisi in „Versuchung“ ihre Selbstmordfantasien. Erscheinungen plagen sie. Sie vermeint, ihr „Meister“, der 1856 verstorbene Dichter Heinrich Heine, führe ihr die Hand bei ihren Gedichten. „Es schluchzt meine Seele, sie jauchzt und sie weint, sie war heute Nacht mit der Deinen vereint“, schreibt sie 1887.
Ihre kühle Schönheit, ihre Rastlosigkeit, ihre in einer Hafenkneipe erworbene Ankertätowierung auf der Schulter, ihre Wespentaille von nur 46 Zentimetern, ihre Schwermut ... Welch ein ideales Vorbild für die Heldin eines Mangas. Kein süßes Mädel, wie in den Sisi-Filmen. Nein, ein vom Schicksal gezeichneter, eiskalter Engel, ein Kokain schnupfender, männermordender Vamp, ein Ideal der schwarzen Romantik, eine Byron’sche Heldin: „Dark Sisi“.
„Manga no Kami-Sama“, Gott des Mangas, nennt man Osamu Tezuka in seiner Heimat Japan. Ihn den Schöpfer von Astro Boy, dem kleinen Androidenjungen mit Superkräften und Kimba, dem weißen Löwen, der zum Vorbild für Disneys „König der Löwen“ wurde. Ihn den Erfinder der riesengroßen Kulleraugen, dem Markenzeichen für Mangas überhaupt. Ihn, der in seinem Alterswerk aber auch Mangas über Buddha, Hitler oder eben Beethoven entwirft. Hätte er ein Manga über die dichtende, schwermütige, bergsteigende Kaiserin von Österreich gezeichnet, hätte es wohl „Dark Sisi“ geheißen.
1886 ertrinkt Sisis seelenverwandter Cousin, der bayerische „Märchenkönig“ Ludwig II. im Starnberger See unter mysteriösen Umständen. Sisi bricht am Sarg zusammen. Von dem Selbstmord ihres Sohnes, Kronprinz Rudolf, 1889 erholt sie sich nicht mehr. Ab nun trägt sie Schwarz. Hochgeschlossen und tief verschleiert entzieht sie sich allen Blicken aus Ferngläsern und Feldstechern. Und läuft weiter von Gipfel zu Gipfel.
Ich wollt´, die Leute liessen mich
In Ruh´ und ungeschoren,
Ich bin ja doch nur sicherlich
Ein Mensch, wie sie geboren.
Es tritt die Galle mir fast aus,
Wenn sie mich so fixieren;
Ich kröch´ gern in ein Schneckenhaus
Und könnt´ vor Wut krepieren.
Gewahr´ ich gar ein Opernglas
Tückisch auf mich gerichtet,
Am liebsten sähe ich gleich das,
Samt der Person vernichtet,
widmet sie schon 1887 „An die Gaffer“. Dann verliert sie noch die geliebte und gluckenhaft behütete Tochter Marie Valerie, die 1890 heiratet. „Ich wünschte, meine Seele würde durch eine ganz kleine Öffnung in meinem Herzen zum Himmel fliegen“, sagt Sisi 1898 zu Baronin Julie de Rothschild. Ihr Wunsch wird tags darauf vom Anarchisten Luigi Lucheni in Genf mit einer zugespitzten Feile erfüllt.
Osamu Tezuka stirbt 1989 an Krebs. Zu intensiv hat er jahrzehntelang gearbeitet. „Ludwig B.“, sein letzter Manga, bleibt unvollendet, „Dark Sisi“ eine Fantasie.
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