Ach Oscar, welchem Gerücht bist du da wieder aufgesessen? Thompson lebt!? Und jetzt sitze ich im Wannenbad der Villa Excelsior und weiß nicht weiter. Dafür fühle ich mich sonst entsetzlich gesund. Nicht einmal rauchen darf man hier!
Text: Gregor Schenker / Fotos: Konrad Fersterer
Der Zug holpert gemütlich über die Schwellen. Der stampfende Rhythmus, der dabei erzeugt wird, erinnert mich unwillkürlich an einen alten Blues von Hound Dog Taylor, in dem es heißt: „Yes I’m wild about you Baby, but you don’t treat me right ...“ Wie wahr! Und ja, genau dieser Hound Dog Taylor ist auch der Sänger aus der „Carnival“-Szene in „The Rum Diary“. Als Amber Heard so sexy zwischen den Einheimischen tanzt und Johnny Depp aus dem „Club“ geschmissen wird. Komischer Zufall. Meine Gedanken kreisen wohl wie der Geier um das Aas. Und in diesem Fall ist es angeblich noch am Leben.
Oscar, mein Agent, hatte mich ganz aufgeregt angerufen. Hunter S. Thompson, der Erfinder des Gonzo, die Rolling-Stone-Legende, der Autor der ersten Reportage über die Hells Angels, sei gar nicht tot! Der Selbstmord auf seiner Owl Farm in Colorado vor zehn Jahren sei nur getürkt gewesen, um endlich Ruhe zu haben vor der Meute lästiger Biografen. Angeblich habe er anschließend mit Elvis und Jim Morrison auf einer Südseeinsel gelebt, sei dann aber wegen einer Lungenkrankheit in die österreichischen Berge gezogen. Dort gebe es einen Kurort, habe man ihm gesagt, in dem eine heilende Quelle aus dem Berg fließen würde, man behauptet sogar, das Wasser sei radioaktiv.
Nun tuckere ich also nach Bad Gastein und lese „Angst und Abscheu – Das sagenhafte Leben des Hunter S. Thompson“ von Paul Perry. „Angst und Abscheu“, was ist das nur für ein Titel? Da macht einer auf Crossover zwischen „Sinn und Sinnlichkeit“ und „Schuld und Sühne“ und reiht dann doch nur Anekdötchen aneinander, anstatt „den“ Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts vorzulegen, den man erwarten würde. Aber ich werde neugierig und erfahre, auf wessen Suche ich mich eigentlich begeben soll. Ja, „Fear and Loathing in Las Vegas“, diesen meskalin-verbogenen Abgesang auf den amerikanischen Traum habe ich mal gesehen, vor Jahrzehnten im Kino, aber mir war nicht klar, dass der Autor so eine legendenumrankte Kultfigur ist und eine völlig neue Richtung des Journalismus begründet hat. Gonzo. Ich dachte immer, das wäre eine spezielle Form einschlägiger Filme – Filme mit Titeln wie „Der Gondoliere vom Anale Grande“.
Ich lerne. Ein Jahr war Thompson in den 1960er Jahren mit den Hells Angels unterwegs gewesen, um ein Buch über sie zu schreiben. Er beschützte dabei auch Frauen vor ihren prügelnden Ehemännern. Irgendwie klar, dass man sich da selbst nicht aus der Geschichte raushalten kann oder mitmacht bei allen möglichen Gelagen und sonstigen illegalen Aktionen. Da muss man auch die V-Leute vom Verfassungsschutz verstehen. Nach jahrelangem Method-Acting wird die Methode zur Wahrheit, du glaubst deinen eigenen Lügen. Es ist, als ob man dem Teufel seine Seele verkaufen würde. Aber in der Regel gehen Sagen gut aus. Auch in Gastein.
Angeblich, so die Sage, wollte ein Schmied die heilende Quelle der Gasteiner Ache mit der Hilfe des Teufels zu seinem Haus leiten lassen. Nicht etwa für ein Kurhotel, wie man vermuten sollte, sondern für ein Wasserkraftwerk. Und das mitten im Naturschutzgebiet. Typisch Österreich. Dafür hatte er dem Beelzebub eine Seele versprochen. Natürlich nicht die eigene, sondern die seiner Tochter. Typisch Mann, muss ich jetzt selber eingestehen. Auf jeden Fall bekam der Schmied dann doch kalte Füße, und als er darob seinen Hahn in den mit heilsamem Wasser gefüllten Brunnentrog tauchte, krähte dieser verfrüht und die Seele ward gerettet. Das mit dem Hahn und dem Trog lässt natürlich Interpretationsspielraum zu.

Mein innerer Soundtrack wechselt zu „Little Red Rooster“. Dort, im Wald über dem Gasteiner Wasserfall, lebt jetzt also angeblich Hunter S. Thompson zurückgezogen in einer versteckten Jagdhütte, dreimal pro Woche Bad Gastein besuchend, um ein Wannenbad zu nehmen und seine teerschwarzen Lungen negativ zu ionisieren. Mir kommt das alles ziemlich spanisch vor. Aber solange die Spesenrechnung beglichen wird, ist mir das eigentlich egal. Ein Wochenende Luxushotel mit angeschlossenem Spa-Bereich und ausreichend Gin Tonic – dafür würde ich noch ganz andere Dinge tun, als meine alte Olympia einzupacken und mich auf die Reise zu machen.
Ich blicke aus dem Fenster. Ein Lichtermeer zieht am Ende des Tales den Abhang hinauf. Ein leuchtender Wellenberg inmitten der Wildnis, so scheint es. Plötzlich wird mir klar: Ich kenne diesen Ort. Nicht wirklich, aber so ähnlich habe ich ihn schon oft im Kino gesehen. Hier ist das Zentrum der Macht. Eine künstliche Stadt, erbaut von einem Wahnsinnigen, der die Weltherrschaft an sich reißen möchte. Hunter S. Thompson ist Dr. No, ich bin 007 und werde ihn aufspüren und zur Strecke bringen. Verdammt, wo sind nur meine Psychopharmaka?
Das Pfeifen der Dampflock reißt mich aus den Träumereien. Eine Dampflock im 21. Jahrhundert. Was sind das für Ideen? Ich wähne mich auf der Reise nach Hogwarts, und nicht nach Bad Gastein. In Bad Gastein scheinen die Uhren anders zu ticken. Langsamer, gemächlicher, fast schon in Zeitlupe – und dann klick, stehen sie still. Man hört einen Tropfen fallen, einen Tropfen Thermalwasser. Er fällt durch die Ewigkeit, und wenn er mit einem Platschen aufkommt, drehen sich die Uhren wieder, und das Stimmengewirr, das einem vorher gar nicht aufgefallen ist, setzt wieder ein. Es scheint doch ein Traum im Traum gewesen zu sein. Ob man tatsächlich wach ist? In Wirklichkeit weiß man das doch nie.
Ich packe den Handkoffer mit meiner Olympia unter den Arm und verlasse den Zug. Seltsamerweise steht vor dem kaiserlich-königlichen Bahnhof keine Kutsche, um mich abzuholen. Mein aristokratisches Selbstverständnis bekommt einen argen Kratzer ab. Schließlich bin ich doch ein echter Szarlatanski. Alter polnischer Adel aus Lutz. Das reizende Städtchen meiner Vorfahren erlangte erst unlängst Berühmtheit durch Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“. Thompson, der alte Hochstapler, benutzte hingegen bloß den Namen „Herzog“ als Pseudonym.
Raoul Duke nennt er sich als zynischer, exzentrischer, hedonistischer Autor, der sich ständig mit allen verfügbaren Rauschmitteln zudröhnt und außer über die Hells Angels und Las Vegas auch über den Watergate-Skandal, den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1972 und vielem mehr natürlich auch über das Kentucky Derby berichtete. Journalistische Objektivität hält er für einen aufgeblasenen Widerspruch, mit seinen Essays will er hauptsächlich der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und ihr kräftig in den Arsch treten.
Ich selbst trete in die „Silver Bullet Bar“ ein und kämpfe mich bis zur Theke durch. Ein Soldat in Zivil reitet gerade auf dem unter dem Balkon montierten Bisonkopf, was den Männern von der Security nicht besonders schmeckt, weshalb sie ihn sanft entschlossen hinauskomplimentieren. „Kennen Sie Hunter S. Thompson?“, frage ich den Barkeeper. Schnell muss ich erkennen, dass ich mich hier in internationalen Gefilden bewege und mit Deutsch nicht weiterkomme. Aber auch auf Englisch bleibt die Antwort bloß ein Schulterzucken. Trinke ich eben ein paar Kurze mit meinen neuen Freunden Søren und Jørgen. Gemeinsam praktizieren wir Völkerverständigung und recken zum französischen Titel eines italienischen DJs die Hände in die Höhe. L’amour toujours!
Drei Bars und 20 Kurze später hat sich die Lage nicht wesentlich geändert. Niemand kann mir einen entscheidenden Hinweis auf Thompsons Verbleib geben, und irgendwie habe ich das eigentliche Ziel meiner Barbesuche ein wenig aus den Augen verloren. Leicht verzweifelt wanke ich zu meinem Hotel, der samtigen Charme versprühenden Villa Excelsior, und Hoteldirektor Christof lässt mir auf mein herzerweichendes Flehen hin noch spätnachts ein Wannenbad ein. Ich möchte endlich wissen, was Thompson hier angeblich gesund werden lässt.
So weike ich vor mich hin, schlürfe Wild Turkey und pfeife „Guantanamera“ durch die Zähne. Meine Finger bekommen allmählich eine Rosinenhaut, während sie auf meine Olympia klopfen, und ich versuche eine Geschichte zusammenzureimen. Da betritt plötzlich ein stattlicher Herr im Bademantel und mit weißem Rauschebart meine Kabine. „Sie scheinen ja hübsch musikalisch zu sein, Herr Kollege. Da können Sie ja genau genommen auch mitkommen und mir in der Hotelkapelle aushelfen. Mir fehlen für die Orgelbearbeitung von Mozarts Epistelsonate in C-Dur noch zwei Hände.“
Ich kann dem sonoren Klang seiner Stimme nicht widerstehen und schlüpfe in meinen Morgenrock. Unterwegs klauen wir uns noch einen Averna aus der Hotelbar, und schon tönt die alte Bontempi aus allen imaginären Pfeifen und erfüllt die hoteleigene Kapelle, die mir plötzlich so imposant vorkommt wie der Dom von Orvieto, mit dem ihr zustehenden sakralen Nimbus. „Geil“, brummt mein neuer musikalischer Partner. Da fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Das ist ja der freundliche Herr aus der Edeka-Werbung, der in seiner musikalischen Dichtung „Belgique, Belgique“ so schonungslos ehrlich über sein eigenes Leben berichtet!
Meine Erleuchtung bemerkend gibt er mir zu verstehen, dass ich näher rücken soll. Dann flüstert er mir bedeutungsschwanger ins Ohr: „Ich verrate dir ein Geheimnis, Sportsfreund. Friedrich Liechtenstein ist nur ein Künstlername. In Wirklichkeit heiße ich Thomas Söhnlein Jäger.“ Keine Ahnung, wieso mich das interessieren sollte. Ich gehe wieder zurück ins Wannenbad und gieße in jeder Hinsicht noch etwas nach. „How long, O Lord, how long? Where will it end?“ Werde ich Hunter wohl je finden? Ach, Schwamm drüber und ab in die Sauna zum Schnapsaufguss. Ein medizinischer Fauxpas, aber „Let the good times roll!“